Es gibt viel zu tun in Rüsselsheim
Cirstin Caspary, Sport-Coach der Stadt, berichtet von ihrer Arbeit
Frau Caspary, Sie sind seit Juni 2016 als Sport-Coach der Stadt Rüsselsheim aktiv. Sie mussten sich richtig um das Amt bewerben und einem Auswahl-Gremium, das sich aus der Stabsstelle Asyl, dem Sportbund Rüsselsheim und dem Fachbereich Ehrenamt und Sport der Stadt zusammensetzte, stellen. Was war Ihrer Meinung nach ausschlaggebend dafür, dass Sie für dieses Ehrenamt ausgewählt wurden?
Das Programm Sport und Flüchtlinge mit seinen Sport-Coaches wurde von der Stadt Rüsselsheim sehr begrüßt und hat ein hohes Ansehen. Daher hat man auch verschiedene Wunschkriterien an diejenigen, die hier mitwirken: Kenntnisse über die Stadt, ihre Anwohner und ihre Vereine sind wichtig. Hinzu kommt ein gewisser Grad an Vernetzung innerhalb dieser Strukturen. Eine gewisse Sporterfahrung, auch als Trainer, Organisationstalent und eine Portion Empathie gehören auch dazu. Ich denke, dass ich sehr viel davon mitbringe und deshalb dieses Amt bekommen habe.
Worin liegt Ihre Motivation sich als Sport-Coach zu engagieren?
Ich könnte die Frage jetzt mit einem Wort zusammenfassen: „Menschen“. Wir – als Gesellschaft und alle Einzelpersonen – sind Zeitzeugen einer unglaublich dramatischen Situation. Für mich ist das ein bisschen, wie bei einem Unfall: Wenn man helfen kann, sollte man das auch tun. In diesem Fall geht es mir primär um die Menschen, die vor Krieg oder Verfolgung aus ihrer Heimat flüchten mussten. Wir dürfen aber auch die nicht vergessen, die indirekt betroffen sind: Zum Beispiel die Ehrenamtlichen, die so viel Engagement und Freizeit mitbringen, oder auch Bürger, die verunsichert sind. Alle diese Gruppen haben Fragen und freuen sich über Unterstützung.
Wie viel Zeit investieren Sie pro Woche in Ihre Tätigkeit als Sport-Coach?
Das ist von Woche zu Woche unterschiedlich. Zwei Dinge kann ich aber sagen: Mit der Stadt Rüsselsheim waren 20 Stunden im Monat vereinbart. Die überschreite ich regelmäßig locker. Außerdem habe ich mir eine Handy-Flatrate und ein Headset angeschafft.
Was sind die bedeutendsten Maßnahmen Ihrer Tätigkeit?
Eigentlich will ich da gar keine besondere Tätigkeit herausstellen, da jede einzelne Aktion für sich wichtig ist. Gerne nenne ich aber unsere Schwimmkurse. Zu Zeiten, die weder von Vereinen, Schulen oder sonstigen Nachfragern genutzt werden, haben wir Einsteigerkurse angeboten. In einem einwöchentlichen Kompaktseminar wurden den Teilnehmern in Zusammenarbeit mit einer Vereinsschwimmtrainerin das Schwimmen sowie die entsprechenden Baderegeln beigebracht. Bisher hatten wir nur männliche Teilnehmer. Die Damen trauen sich leider noch nicht. Weitere Kurse sollen folgen. Außerdem hatten wir Anfang März einen „Tag des Offenen Trainings“. Viele der Rüsselsheimer Vereine haben die Möglichkeit genutzt, sich nicht nur den Geflüchteten, sondern auch den „alten“ Rüsselsheimern vorzustellen. Bei den diversen Sportangeboten gab es eine rege Beteiligung. Wie viel Mitgliedschaften daraus entstanden sind, werden wir noch erfragen.
Wie viele Flüchtlinge betreuen Sie? Hat sich seit Ihrem Start im letzten Jahr die Anzahl verändert?
In Rüsselsheim haben wir derzeit 1.110 Geflüchtete. Die Zahl ist, seit ich angefangen habe, ein wenig gestiegen.
Wie empfinden Sie die Bereitschaft der Vereine, sich im Themenfeld Flüchtlinge zu engagieren?
Generell erfahre ich eine hohe Bereitschaft der Rüsselsheimer Vereine. Limits gibt es nur da, wo ein Kurs oder ein Training von der Teilnehmerzahl her an sein Grenzen stößt. Das hat aber nichts mit dem Thema Geflüchtete zu tun, auch wenn die Vereine natürlich wissen, dass sie sich anfangs für die Neuen mehr Zeit nehmen müssen.
Welche Chancen bestehen für die Vereine in der Zusammenarbeit mit Ihnen bzw. in der Einbindung von Geflüchteten in Ihren Sportbetrieb?
Die Vereine freuen sich über die neuen Mitglieder. Und zwar nicht nur über die, die durch besondere Leistungen herausragen.
Wie helfen Sie sich weiter, wenn es mit der Verständigung mit den Geflüchteten mal schwierig wird?
Wenn Deutsch, Englisch und manchmal auch Französisch nicht mehr helfen, erweisen sich Hände und Füße als durchaus hilfreich. Sehr oft helfen aber auch andere Geflüchtete beim Übersetzen.
Was würde Ihrer Meinung nach dazu beitragen, dass noch mehr (gerade weibliche) Flüchtlinge sich in den Vereinen wohl fühlen bzw. einer Teilnahme an den Angeboten öffnen?
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich viele Frauen gar nicht trauen oder für sich in Betracht ziehen, dass sie auch mal Sport machen könnten. Auch dann, wenn der Ehemann sie dazu ermutigt. Da scheint es doch tiefe kulturelle Prägungen zu geben. Hier versuchen wir, einen Schritt vorzuschalten und bieten ein Training nur für Frauen direkt in der Unterkunft an. Die Frauen sollen erleben, wie schön gemeinsamer Sport ist. So können wir sie im zweiten Schritt hoffentlich für Vereinsangebote begeistern. Insgesamt wollen wir noch mehr informieren und die aktiven Geflüchteten einspannen. Ich versuche immer möglichst viele ihrer Kollegen oder Kolleginnen zum Mitmachen zu motivieren. Trotzdem wird es nicht möglich sein alle durch den Sport zu erreichen. Das Phänomen des Schweinehundes ist nämlich ein internationales.
Konnten in Rüsselsheim Flüchtlinge für ehrenamtliche Tätigkeiten gewonnen werden?
Von den Flüchtlingen ist zwar keine Person offiziell als Ehrenamtler registriert, aber wir bekommen doch einiges an Hilfe angeboten. Ich habe zum Beispiel ein kleines Netzwerk, wenn es darum geht, Informationen über Sportangebote zu verbreiten oder Interesse zu erfragen. Außerdem erhalte ich Unterstützung, wenn ich auf Sprachproblemen stoße. Letztes Jahr waren einige Jungs als Helfer beim Citytriathlon Frankfurt und beim Ironman dabei. Das Thema Ehrenamt will ich aber nochmal angehen. Das ist für die meisten Geflüchteten derzeit einfach ein unbekanntes Thema, das schon wieder mit „Behörde“ und „Formular“ zu tun hat. Ich würde mich freuen, wenn die Leute in die sehr gute Ehrenamtsstruktur in Rüsselsheim eingebunden werden und denke, dass viele es auch als Auszeichnung verstehen werden.
Gab es Befindlichkeiten von Seiten der Flüchtlinge, weil Sie eine Frau sind?
Nein. Wahrscheinlich treten die Personen, die Ressentiments haben, erst gar nicht mit mir in Kontakt. Ich werde von den männlichen Geflüchteten respektvoller und höflicher behandelt, als von dem ein oder anderen Herren, der hier vielleicht sogar schon geboren wurde…
Sind Sie im Rahmen Ihrer Aufgabe mit Vorurteilen aus der „alt eigesessenen Bevölkerung“ konfrontiert worden?
Nein. Ich hatte es schon angedeutet: Es kommt vor, dass man auf mich zukommt und wissen will „wie die so ticken“ oder ob ich als Frau Probleme habe. Manche sind auch einfach nur besorgt und fragen sich, wie das mit der Integration die nächsten Jahre so laufen wird. Der Standard-Eingangssatz in das Gespräch ist dann oft „Hör mal, ich bin echt nicht AFD, aber mich beschäftigt doch…“. Ich denke, es gehört auch zu meinen Aufgaben, hier aus meinen Alltag zu erzählen und die Leute zu ermutigen, aufeinander zuzugehen.
Das System der Sportvereine ist den meisten Geflüchteten nicht bekannt. Was haben Sie dafür getan, um eine entsprechendes Verständnis für die Strukturen zu entwickeln?
Vereine wie wir sie in Deutschland haben, sind meist nicht bekannt. Daher versuche ich jedem Flüchtling zu vermitteln, was ein „Verein“ ist und wie er arbeitet, bevor er in sein erstes Training geht. Wir hatten sogar schon ein Seminar für unsere Fußballer, in dem neben Regelkunde und Fairness im Sport auch die Vereinsstruktur behandelt wurde. Die Anwesenheitsquote im Training steigt erfahrungsgemäß, wenn die Flüchtlinge erfahren, dass das Engagement der Übungsleiter freiwillig und oft ohne Bezahlung erfolgt. Sie nehmen mangels Wissen Vereinsarbeit oft als eine Art „staatliches“ Angebot wahr.
Die Förderung für das Landesprogramm Sport und Flüchtlinge wird in 2017 fortgesetzt. Was ist Ihr nächstes Ziel?
Neben vielen kleinen Projekten sind folgende Punkte auf der Agenda: Wir wollen interessierte Personen, die als Übungsleiter oder Trainer arbeiten möchten, mit Vereinen zusammenbringen, um zumindest temporär mit zusätzlichen Trainings die Nachfrage abdecken zu können. Aufgrund des positiven Feedbacks planen wir einen weiteren Tag des Offenen Trainings. Außerdem möchten wir mit vereinzelten Vereinen, bei denen die Nachfrage besonders hoch ist, einen speziellen Sporttag organisieren. Und wie schon erwähnt, möchte ich noch mehr Flüchtlinge motivieren, als Ehrenamtler oder Helfer zu arbeiten – gerne auch am Hessentag.
Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit den anderen Sport-Coaches in Rüsselsheim, mit dem Sportbund Rüsselsheim und dem Sportkreis?
Wir Coaches haben schon fast eine Art Standleitung. Viel geht über Telefon oder SMS. Die Zusammenarbeit mit dem Sportbund Rüsselsheim läuft super. Wir, das bedeutet hier, der Fachbereich Sport und Ehrenamt, die Stabsstelle Asyl und der Sportbund Rüsselsheim treffen uns regelmäßig alle zwei Wochen. Wenn es mal eiliger ist, greifen wir zum Telefon oder informieren uns per E-Mail. Mit dem Sportkreis hatte ich bisher nur im Rahmen des Regionaltreffens, das super organisiert war, zu tun.
Die Sportjugend Hessen begleitet und unterstützt Sport-Coaches in ihrer Arbeit vor Ort und durch das Angebot von Qualifizierungsmaßnahmen. Fühlen Sie sich gut aufgehoben bzw. haben Sie Anregungen, wie die Zusammenarbeit ausgebaut werden kann?
Ja, das tue ich. Was mir sehr gefällt, ist, dass die Leute dort ein unglaubliches persönliches Engagement zeigen. Man merkt, dass das für sie nicht nur ein „Job“ ist. Wir haben kurze und effektive Kommunikationswege. Ich will nicht zu viel Honig um die Münder schmieren, aber es macht wirklich Spaß mit dem Team. Deswegen kann ich jetzt auch nicht mit einem Verbesserungsvorschlag dienen. Macht weiter so!
Bei den Sport-Coaches laufen alle Fäden zusammen
Durch meine vielen ehrenamtlichen Tätigkeiten in der Gemeinde kenne ich hier so gut wie jeden und jeder kennt mich. Die Wege sind kurz, ich kann sehr schnell etwas umsetzen. Der Weg zum Sport-Coach im Modellprojekt „Sport und Flüchtlinge“ war da nicht weit.
Als ich die ersten Vereine zum Mitmachen bewegen wollte, gab es unterschiedliche Reaktionen. Manche wollten gleich loslegen, andere hatten Bedenken. Oft ging es nur um freie Hallenzeiten, das Finden von Übungsleiter/innen oder die Anfrage bei Sportgruppen, ob Flüchtlinge bei ihnen mitmachen können.
Aber es gab auch Ängste: Man sieht zwar die Flüchtlinge im Ort, aber man kennt sie nicht. Vorbehalte – so etwas gibt es ja auch gegenüber „deutschen“ Zugezogenen. Man muss schon gefühlte 100 Jahre bei uns im Ort wohnen, dann gehört man für so manchen erst richtig dazu. Da helfen nur Aufklärungsarbeit und das Herstellen erster Kontakte. Barrieren und Hemmnisse, die überwunden werden müssen, gibt es auf beiden Seiten.
Manche der sportinteressierten Flüchtlinge habe ich sogar beim Einkaufen der benötigten Sportartikel fürs Training begleitet. Die ersten Schritte sind gemacht und waren erfolgreich. Jetzt geht es darum, weitere Möglichkeiten für Flüchtlinge in den Vereinen zu schaffen. Viele sind sehr gut ausgebildet und haben Lust, sich zu betätigen. Ich werde zusammen mit den Vereinen weitere Ideen entwickeln, wo die Flüchtlinge »andocken« können.
Als Sport-Coach bin ich eine Art Vermittler. Ich bringe Menschen zusammen und nutze dazu kurze Wege, weil ich viele Leute kenne. Integration funktioniert dann am besten, wenn man auf Augenhöhe im Dialog bleibt.